FRAME. Drei

24.12.2021

Ein Gespräch mit…
einer Nachbarin.

 

Wir sind bei Annette eingeladen. Wir treffen uns vor dem Theater, gehen 50 Meter bis zu Annettes Haustür und klingeln. Es ist der Samstagmorgen vor dem dritten Advent. Draußen ist es kalt und nieselig. Umso mehr freuen wir uns, als uns Annette gut gelaunt die Tür aufmacht. Uns schallt funkige Musik aus dem Wohnungsflur entgegen. Es ist warm und gemütlich. Wir legen unsere Sachen ab, setzen uns in die Küche und werden augenblicklich mit Kaffee versorgt. Es fühlt sich an, wie zu Besuch bei einer guten Freundin.

 

Und so kommen wir ins Gespräch. Annette hat an verschiedenen FRAME-Aktionen teilgenommen. Sie erinnert sich an die Workshops.

 

„Ich muss einmal überlegen, was wir in den Workshops gemacht haben. Wir haben Kennenlernmethoden ausprobiert. Dann haben wir die Schilder gestaltet und überall in der Straße aufgehängt. Wir hatten wirklich viele.
Und dann natürlich die Banner-Aktion! Da haben wir auch mitgemacht und waren bei der FRAME.Schau dabei, als Harald als Clown abends durch die Straße gezogen ist. Davon habe ich sogar ein Polaroid von Brodo bekommen und es mit nach Hause genommen.“

 

 

„Dank der Workshops sehe ich nun die Leute in meiner Nachbarschaft bewusster. Von manchen wusste ich vor den Aktionen gar nicht, dass sie hier in der Straße leben. So bleibt man jetzt auch häufiger stehen und quatscht, wenn man sich zufällig trifft. Das finde ich sehr schön; man weiß mehr über die Leute und kann so ein paar Kontakte und Austausch herstellen.“

 

 

Wir wollten wissen, ob Annette das Theater am Ende der Sackgasse jetzt anders wahrnimmt als vorher. Die Frage war ein bisschen plump. Eigentlich wollte wir hören, dass seit den interaktiven Workshops wieder neue Erinnerungen in Bezug auf das Gebäude gegenüber von Annettes Wohnzimmerfenster entstanden sind. Doch sie erzählt uns viel mehr, viel Interessanteres.

 

„Wir haben damals die Anfänge begleitet und haben Demos auf der Treppe des Theaters abgehalten.
Daran erinnere ich mich noch gut, es ging darum, dass das Gebäude abgerissen werden sollte. Und das fand ich ganz, ganz furchtbar. Ich bin ja hier schon ein Urgestein. Ich bin da zum Konfirmandenunterricht gewesen in dem Haus und habe da auch schon als Kind gespielt.

Meine Mutter, meine Großmutter und ich, wir sind hier getauft, konfirmiert, getraut...

Es ist aber wirklich schon lange her, dass ich ein Stück mitbekommen habe, weil es zeitlich für mich immer so ungünstig lag. Aber eingeladen wurde die Nachbarschaft immer zu allen Stücken!“

 

 

Vielleicht schafft es Annette ja zum nächsten Stück ins AlarmTheater. Ein Teil des Theaters hängt ja nun als stete Erinnerung in ihrer Wohnung. Ein Banner hängt im Flur, sehr präsent, das andere im Bad. Sie fügen sich ein und stechen doch raus.

Als wir anfangen über die Banner zu reden, steht Annette auf und nimmt uns mit. Ihrer Wohnung merkt man an, dass hier jemand wohnt, der gerne lebt. Wir stehen im Flur und reden darüber, wie die Banner entstanden sind, was dahintersteckt.

 

 

„Erstmal die Farben... also das Lavendel, das passt extrem gut in meinen Flur, das Mint ist dazu komplementär.

Ja und die Sprüche: 'Nicht meckern, sondern machen' und 'Miteinander, statt gegeneinander'... Das sagt eigentlich alles aus, oder? Gerade momentan, finde ich ein Miteinander so wichtig, weil mir auffällt, dass viele Leute zurzeit eher gegeneinander sind. Man sollte nicht gegeneinander arbeiten, sondern miteinander viel mehr erreichen, weil man gemeinsam stark ist. So einfach ist das.

Und nicht 'Meckern, sondern machen' ist so eine ähnliche Geschichte. Ich meckere auch gern mal rum, aber ich mache dann auch. Das ist eine Lebenseinstellung von mir.“

 

 

Für uns klingt das nach einem Wunsch nach Veränderung, nach Gesellschaftskritik.

 

 „Ich bin der Meinung, dass wir besser hingucken müssen, weil die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander geht. Und ich weiß, dass ich privilegiert bin; mir geht es gut. Nee, ich kann da gar nicht jammern.

Ganz schlimm finde ich den Zustand in Bereichen der Pflege und Erziehung. Das sind klassische Frauen-Bereiche, die immer schon schlechter bezahlt werden. Das kann doch nicht sein. Allerdings werde ich es wahrscheinlich auch nicht mehr richten können. Aber ich hoffe, dass die junge Generation etwas bewegt; die alle zusammen vielleicht. Das ist die einzige Generation, die in der Lage ist, Dinge zu verändern. Weil meine Generation schon viel zu festgefahren ist. Natürlich nicht alle, aber viele...“

 

 

In einer kurzen Gedankenpause trinken wir einen Schluck. Von einem Kaffee zum anderen...
Wir erinnern uns an das Finale der FRAME.Map, bei dem die Nachbar:innenschaft zusammenkam.

 

 

„Das war super, weil alle mit angepackt haben. Alle haben Kuchen gemacht und so waren auch alle bereit, sich einzubringen. Und das trotz des Wetters!

Um nicht nass zu werden, kam uns ja auch die Idee mit dem Zelt. Das dann durch die Gegend zu tragen, fand ich total lustig. Und die Banner, die Brodo hier nebenan auf der Wiese enthüllt hat, die gefielen mir sehr und ich fand es toll, dass sie noch so lange hingen. Ich wünsche mir sogar, dass dort wieder so etwas hängt. Dann hätte ich von meiner Terrasse wieder einen tollen Blick darauf.

Auf der Wiese ist ja immer was los, was ich toll finde. Dort begegnen sich ganz verschiedene Menschen und kommen ins Gespräch – auch über die dort ausgestellte Kunst.“

 

 

Dass die Kunst sich wieder Räume erobern kann, in denen sie sonst nicht stattgefunden hat, ist ein Umstand, den die Pandemie stark beeinfluss hat. Wenn die Menschen nicht mehr zur Kunst kommen können, kommt die Kunst eben zu den Menschen - vielleicht zugänglicher als je zuvor.

 

„Ich glaube auch, dass die Kunst mehr rausgehen musste oder muss. Man muss sich neu erfinden, das ist super. Das ist mir auch in anderen Bereichen aufgefallen. Ob das jetzt Restaurants sind oder Läden… Die Leute mussten kreativ werden, sie mussten sich etwas einfallen lassen und das fördert Kreativität.“

 

Annettes Banner haben ja auch das Theater verlassen, sie waren dafür gemacht, gesehen zu werden an den Fassaden der Häuser - eine Straßen-Installation. Und jetzt gibt Annettes Wohnung den Bannern eine neuen Rahmen.

 

„Erst hingen sie draußen, direkt an den beiden Fenstern zur Straße. Ja, und ich wusste von Anfang an, dass sie hierbleiben sollen. So ein Teil kann man nicht kaufen, es ist ja selbstgemacht. Selbst wenn exakt derselbe Spruch draufstehen würde, dann würde er es doch nie so treffen, wie es dieser tut. Etwas Gekauftes trägt vielleicht deine Meinung, aber nie deine Aussage.“

 

 

"Und darum finde ich es gut, dass die Kunst nach außen geht und dass wir darüber mit einbezogen wurden, weil es neue Impulse geschaffen hat, die es so sonst nicht gegeben hätte.
Der Partner meiner Tochter zum Beispiel ist nicht so ein kulturbegeisterter Mensch, aber er war bei den Workshops dabei. Und ich glaube, anfangs kam er sich dabei ein bisschen albern vor. Aber er hat das überwunden und hat dann richtig mitgemacht und hatte wohl auch Spaß daran. Das war eine völlig neue Erfahrung für ihn und nicht nur für ihn; das ging einigen Leuten so, dass sie bei dieser Aktion über ihre Schatten springen mussten, ja vielleicht auch mal Sachen machen mussten, die einem möglicherweise peinlich sein können.

Es war eine tolle Möglichkeit, selber in dieser Richtung etwas zu machen und so möglicherweise für sich etwas ganz Neues zu entdecken.“

 

Daraus ergibt sich auch Annettes Wunsch für die Zukunft der Straße oder besser ihrer Anwohner:innen.

 

„Ich wünsche mir, dass wir regelmäßig etwas machen. Im Sommer zumindest, im Winter bleibt die Wiese ja eher ruhig. Obwohl immer irgendwas los ist. Ich finde es gut, wenn hier Fußball gespielt wird. Ich mag es, dass wir zwei Kindergärten rechts und links haben und die Kinder schreien, weil dann ist da Leben in der Bude.

Früher hat das Theater noch viel mehr Straßenstücke gespielt und wir konnten nachts im Sommer die Proben beobachten mit Musik und Feuer. Das fand ich total cool!

Da hat sich die ganze Nachbarschaft versammelt, das war richtig schön. Das vermisse ich übrigens, ich hätte richtig Lust noch mal auf Straßentheater. Am liebsten ein Stück, bei dem die Nachbarn mitspielen würden. Das wäre wirklich, wirklich toll.“

 

Und mit der Idee zum STRAßENtheater in den Hinterköpfen sprechen wir noch eine ganze Weile über Politik, Gesellschaft, Rollenbilder, Kunst, Familie und vieles mehr, trinken Kaffee und erfreuen uns am gemeinsamen Austausch und dem Gefühl, dass wir hier alle einen gemeinsamen Ort haben.

 

 

 Fotos: Cornelia Lembke / Rike Meyer

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